Textauszug aus der Rede von Dr. Tina Simon.

Gehalten zur Eröffnung "Der schmale Grat der Wahrheit" 2018 im Landgericht Leipzig:

 

 

Julia Tomasi Müntz malt Figuren, genauer: Gesichter.

 

Doch zugleich verweigert sie dem ersten Anschein nach eben das, was ein Gesicht erwarten lässt:

 

Mimik, Charakter, Alter, Geschlecht, Individualität – kurz: ohne Persönlichkeit.

 

Die Köpfe ähneln sich in ihrer schmalen, zylindrischen Form, als wären sie verwandt.

 

Einige sind mehrfach übermalt und somit angefüllt und beladen mit diversen Möglichkeiten.

 

Andere sind fragmentarisch, sind fast leer und somit unentschieden oder ohne Mund und Augen.

 

Zwischen dem Zuviel und Zuwenig ringen sie mit sich und ihrer Umgebung um ihren eigenen Ausdruck. Keine der Figuren ist im anschaulichen Sinne eine fertige.

 

Julia Tomasi Müntz erreicht die besondere bildprägende Wirkung ihrer Malerei, indem sie formal und thematisch Gegensätze konzipiert und sie dann komplementär verbindet.

 

Zuerst ist es die produktive Verbindung von Malerei und Grafik.

 

Die schwarzen, skizzenhaft zeichnerischen Linien liegen auf den kräftigen Farbflächen aus intensivem Rot, Blau, Schwarz und Gelb – unterbrochen von transparenten, teils weißen Flächen.  Die Ölfarbe verbindet sich mit Kreide und Grafit.

 

Die Polarität steckt auch in der Dynamik: malerisch kraftvolle Bewegung wechselt sich mit Bildstellen statischer Stille ab.

 

Die konkrete Körperlichkeit der Figuren kontrastiert mit abstrakten Bildelementen.

 

Es gibt Annäherung durch intime Momente von Mimik und Geste und Abstoßung durch formale Härte und Pose.

 

So zeichnen sich auch inhaltlich Komplementäre ab:

 

Individuum oder Archetyp? 

 

Intimes Bekenntnis oder Rollenmuster?

 

Schließlich: sind es Selbstporträts oder Phantasiewesen?

 

Wenn man sich an diese besondere Form der malerischen Formulierung gewöhnt hat, liest man genauer – in den Gesichtern - und identifiziert Merkmale von dämonisch geisterhaft bis still vertraut, fast sinnlich träumend.

 

Dann erkennt man Wesen zwischen König, Faun, Teufel und Engel, dem Liebsten und dem Selbst und man erheischt jetzt auch den einen oder anderen Blick zurück.

 

Doch ein Gesicht – also einen Charakter oder ein Wesen im Bild zu erzählen, funktionierte immer mit genauen Formulierungen, der Anspielung auf Ähnlichkeiten und einer aus Versatzstücken komprimierten Geschichte der Figur.

 

Julia Tomasi Müntz macht – nahezu – das Gegenteil und arbeitet weitgehend ohne konkretisierendes Instrumentarium mit einer Formsprache des Uneindeutigen und Kontroversen.

 

Allein durch die formalen Module und das großartig beherrschte Prinzip des Konträren nähert sie sich dem eigentlich unergründlichen, veränderbaren Wesen eines Gesichts, zwischen Maskerade und Spiegelbild.

 

Wenn wir als Betrachter die multiplen Physiognomien dieser Figuren abtasten, wird klar, wie unheimlich das ist – einen Menschen wirklich zu erkennen.

 

"SPIELE DER EINBILDUNG, ENTWÜRFE DER ERFAHRUNG"

Ein Text von Andreas Höll, Leipzig

 

 

DAS FIGURENTHEATER DER JULIA TOMASI MÜNTZ

 

„Man kann die Wahrheit nicht erzählen. (…) Alle Geschichten sind erfunden, Spiele der Einbildung, Entwürfe der Erfahrung, Bilder, wahr nur als Bilder.“

Max Frischs Maxime für seinen Roman „Mein Name sei Gantenbein“ könnte als Motto über den Arbeiten von Julia Tomasi Müntz stehen. Bei ihrem Figurentheater geht es ebenso um Versuchsanordnungen der Phantasie wie um die malerische Reflexion der eigenen Biografie.

 

In abstrahierten Figuren wird die Möglichkeitswelt ausgelotet, in Gesichtern und Gesten spiegeln sich die Spuren des selbst Erlebten. So ist ihr Werk von vielfältigen Ambivalenzen geprägt. Da ist zunächst einmal die Spannung zwischen Linie und Fläche, Zeichnung und Malerei. Die Linien fungieren oftmals als Umrahmung oder Silhouette, während die Farben ein Eigenleben entwickeln und Räume evozieren, die sich nicht eindeutig definieren lassen. Es können Interieurs, aber zuweilen auch Exterieurs sein, wenn etwa ein grüner Hintergrund als Wand oder Wald erscheint. 

Diese Doppeldeutigkeit prägt auch auf andere Weise die Physiognomie ihrer Figuren. Sie changieren zwischen maskenhaften Leerstellen und individualisierten Personen, die in geheimnisvollen Konstellationen befangen sind. Charakteristisch sind dabei jene langen, schmalen Gesichter, in denen sich die Künstlerin zu porträtieren scheint. Die Selbstbildnisse kreisen indessen nicht um ein abgeschlossenes Ich. Sie versinnbildlichen zugleich psychische Prozesse, wenn Lichtblitze auftauchen oder bei einem Schlafenden das Traumgeschehen zeichenhaft dargestellt wird.

Oder es tauchen archetypische Symbole, wie eine Krone, auf, die als Chiffre der Selbstüberhöhung oder auch als Verweis auf den Dichter Novalis gelesen werden kann, der einst so unvergleichlich formuliert hat: „Wir alle entstammen einem uralten Königsgeschlecht, doch wie wenige tragen das Gepräge dieser Abkunft.“ Oder aber man sieht kleine, menschliche Figuren, die aus einem Kopf herausragen und die Verstrickung des Individuums in die comédie humaine thematisieren.

 

So geht es bei diesen Arbeiten einerseits um die seelischen Aggregatzustände des Ich. Zum anderen rücken archetypische Beziehungsmuster ins Blickfeld. 

Die Malerin ist von jenem unerklärlichen Moment von Anziehung und Abstoßung fasziniert, der die Spielarten von Erotik und Sexualität bestimmt. Phallusartige Gebilde sind zu sehen, Blüten, die Vaginas evozieren, verborgene Mechanismen oszillieren zwischen Intimität und Entfremdung.

Julia Tomasi Müntz zeigt Symbiosen und Fliehkräfte zwischen Mann und Frau, doch oftmals ist eine dritte Person gegenwärtig. Es bleibt offen, ob es sich bei diesen subtilen Beziehungsdramen um eine reale Figur handelt oder um eine Verkörperung eines anderen Aspektes der Persönlichkeit.

 

Unweigerlich muß man an die Analytische Psychologie eines Carl Gustav Jung denken, der mit seinem Begriff des Animus die unbewußten maskulinen Potentiale der Frau beschrieben hatte. Der Animus übernehme – analog zur Anima beim Mann – die Rolle des Schattens und man erlebe mit ihm „seinen andersgeschlechtlichen Urgrund.“ 

 

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HEIDI STECKER, LEIPZIG:

 

In der Erzählung "Im Wirbel des Malstroms" schildert Edgar Allan Poe einen Fischer, der in den Malstrom geriet. Das Risiko, in der Nähe des gefährlichen Naturereignisses zu fischen, war er beim Versuch eingegangen, unter kärglichen Lebensbedingungen seine Existenz effektiv zu sichern. Nun droht dieses Naturschauspiel, ihn zu töten. Er geht aber nicht wie sein unglücklicher Bruder im Sog des Meeres unter, sondern kann mit Hilfe seines Verstandes, seiner scharfen Beobachtungs- und Kombinationsgabe und mit viel Glück überleben. Diese knapp und sparsam beschriebene, atmosphärisch sehr wirkungsvolle Fiktion ist ein bedrohliches Sinnbild: einerseits für das Ausgeliefertsein des Menschen und andererseits für die Möglichkeit, Situationen rational bewältigen zu können. Allerdings macht Poe deutlich, daß der Preis sehr hoch sein kann und sich niemand in der endgültigen Sicherheit wiegen dürfe, sein Schicksal vollständig kontrollieren zu können. Der Erzähler ist für den Rest seines Lebens gezeichnet, obwohl er im Angesicht des Todes bedauert, niemandem von seinem Blick in das Auge des Wirbels berichten zu können. 

 

Wiewohl es den Malstrom tatsächlich gibt, schafft es erst die künstlerische Überhöhung, aus einer naturwissenschaftlichen Beobachtung etwas Unvergessliches zu machen, etwas von hoher poetischer Dichte und emotionaler Ansprache - und eine beeindruckende Angsterzählung vom Ausgeliefertsein an Gewalten, die Menschen leicht überwältigen und womöglich bis hin zur totalen Auslöschung treiben können. 

 

Aufmerksam und mit besonderer Sensibilität gegenüber einem nicht alltäglichen Sachverhalt, bündelt Poe in dieser Geschichte gleichnishaft existentielle Situationen. Zurückgeworfen auf das Kreatürlichste, mobilisieren sich in der Bedrohung Unsicherheiten, Furcht und Selbstbehauptung. Das Unheimliche kommt bei Poe nicht von finsteren Nachtgestalten, sondern von der unbändigen Natur, die nicht zu zähmen und zu domestizieren ist, die aber in ihren Wirkungen erkannt oder wenigstens aus der Ferne bewundert werden kann. Künstlerische Beschreibung vermag es, diese Vorgänge in eine Metapher zu fassen. 

 

Der "Malstrom" taucht auch bei einem Gemälde von Julia Tomasi Müntz auf. Ihre Vorgehensweise erinnert an eine Story, die kein Vorher und kein Nachher hat. Es wird nur ein Augenblick beschrieben, der es freilich in sich hat. Die vermeintlich spräde Erzählung trifft, läßt man sich auf sie ein, direkt oder indirekt zum Mindesten vage Besorgnis. Das Unheimliche lauert unter der Oberfläche der vermeintlichen Tatsachen. Unter den tastenden Füßen schwankt der Boden des faszinierenden, verlockenden, unergründlichen Weges; jeden Moment verschlingt die Strömung die kühnen Fahrenden und mutigen Neugierigen. Scharfer Verstand kann vor dem Verhängnis retten, aber glückliche Fügung hilft tatsächlich. 

 

Diese nicht sichtbare, luzide Barriere zwischen Ratio und Emotion findet sich auch in der Kunst von Julia Tomasi Müntz. Der Strudel, der Strom von Linien, Flächen und Farben, leuchtet mal signalhaft, explosiv und gefährlich strahlend auf, mal wird das Chaos beruhigend gebändigt. Aber das mag eine falsche Fährte sein, die auf das Glatteis führt oder im sumpfigen Morast irrlichtert. Wissbegierde und Abenteuerlust können in äußerste Gefährdung bringen, die aber - manchmal - analytisch mit messerscharfem Verstand bewältigt werden kann. 

Bisweilen zacken Linien wüst auf dem Grund, gelegentlich üppig in Farbe schwelgend. 

 

Merkwürdige Wesen lösen sich in Himmelsbläue auf oder verschwimmen in noch blaueren Meerestiefen, ockerfarbene Leiber manifestieren sich in Wüsten um, weißliche, opake Körper verschmelzen mit dem papierenen Untergrund. Rot glühend erhitzte Gestalten verwandeln sich in satanische Dämonen oder erinnern an gehäutete Fleischmassen, aus augenlosen Mienen leuchten gebleckte Zähne. Böse Gespenster bedrohen undefinierte, dimensionslose Räume, die Bühnen für Träume und Albträume sind. Geisterhaft schweben Gesichter vor den Hintergründen. Schwarze Augenhöhlen starren aus Totenschädeln, Köpfe ohne Antlitz verweigern jede Individualtität. Wie in einem Laboratorium, in dem Homunculi gezüchtet werden, oder bei der Beschwörung magischer Rituale schweben Knäuel von Körpern. Aber alles entzieht sich absoluter Kontrolle.

 

Scheinleiber werden beschworen, Verwirrung wird angerichtet, alchemistische Experimente bringen geschlechtliche Identitäten durcheinander. Männer und Frauen ringen miteinander um Herrschaft oder um Lust. Figuren scheinen zu explodieren oder wie Pflanzen zu wuchern, vegetabile Triebe verwirren sich in physischen Begierden, Verlangen läßt Körper vibrieren, bis sie sich in Schatten oder in Licht auflösen. Wie Tentakel oder Kristalle wuchern Gebilde und Schemen über die Flächen. Mutanten vollbringen akrobatische Übungen. Personen, Paare, Gruppen liegen, stehen, sitzen, tanzen oder pflegen der Ruhe. Alles bleibt weitgehend unbestimmt. Einzig erotische Aktivitäten stellen sich oft als ein klares Ziel dar. Aber häufig lauert ein totenköpfiges Geschöpf den sexuellen Eskapaden auf. Der Tod ist Akteur oder nur ein Beobachter. Spielt er gar auf zum traditionellen Totentanz?

 

Mitunter tragen die Protagonisten merkwürdige Gebilde am Kopf. Manchen könnten ob der Konfusionen die Haare zu Berge stehen. Oder sind es Rastalocken, die weit vom Haupt abstehen? Oder ist es Dampf, der heraus quillt? Verfilzen sich Haarbüschel, verwandeln sich womöglich in Kerzen? Oder Kronen? Sind die unheimlichen Auswüchse Knospungen, etwa die Hörner des Teufels, der Nichtsahnende, Unsichere oder Lüsterne in Versuchung führen möchte?

 

Portraits sind unter den Bildern von Tomasi Müntz; die Bildnisse geben zunächst vor, völlig verschiedene Personen zu sein. Es sind gleichwohl Selbstportraits, die jedoch nicht mit der Wiedererkennbarkeit der Autorin spielen. Sie machen es unmöglich, voyeuristisch auf der Suche nach Facetten der Persönlichkeit fündig zu werden. Sie sind nicht psychologisierend. Das Individuum wird nicht greifbar. Eine Grenze bleibt bestehen, nichts wird preisgegeben. 

 

Es sind ambivalente Situationen, in denen sich humanoide Wesen begegnen. Diese Unbestimmtheit findet sich in der Allgemeinheit der Titel wieder. Die Konstellationen bleiben fragwürdig und damit öffnen sich unendliche Assoziationsmöglichkeiten. Auf Transparentpapier verleihen blockhafte prächtige Farbfelder mit Ölfarbe und kräftigen Graphitlinien dem ungebärdigen Treiben auf dem Blatt Festigkeit. Konzentriert werden die Flächen gebaut und spannungsvoll, um letztlich harmonisch gegeneinander gesetzt zu werden. Farbschichten unterschiedlicher materieller Konsistenz überlagern sich bei überarbeiteten Andrucken, kämpfen um Dominanz, spielen einander aus und fügen sich dennoch ausgewogen zusammen. Die Zeit presst sich darüber ins Bild. Verlaufende Farbe setzt sich spielerisch gegen strenge Konturen ab und bricht die Härte. Dynamisch toben Bewegungen gegen Zonen der Ruhe. 

 

Widerspenstig ringt Stille mit starker Energie. Julia Tomasi Müntz bietet eine Mimikry an, in die man schlüpfen kann, um sich auszuprobieren. Die Rollen befinden sich im Gleichgewicht, das jedoch unentwegt in einem permanent bewegten dynamischen Gleichgewicht wankt. Vieldeutig sind verdächtige, sinnliche Gestalten auf Reisen. 

Die Kraft des Materials bezwingt zu widles Tun oder friert den Moment ein. Der Weg ist umlauert von Gefahren. Dämonen sind immer unterwegs; sie erfüllen auch Wünsche, das tun nicht nur die guten Fee. Man kann sie überlisten, aber sie setzen die unbekannten und doch nicht fremden Protagonisten und Protagonistinnen immer wieder üblen Anfechtungen aus, die zumindest gelegentlich Vergnügen bereiten. Ob schwarze oder weiße Magie, oben und unten, Himmel und Erde und Hölle - alles entzieht sich dem letztgültigen Zugriff. Julia Tomasi Müntz vermag die Dompteurin dieser geheimnisvollen Umtriebe zu sein. Das spendet Trost in solch aufregenden Hexenkesseln, wie sie Poe beschreibt: "Das Innere des Trichters war blank und eben, so weit das Auge zu sehen vermochte, war eine pechschwarze, glitzernde Wassermauer, die etwa in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gegen den Horizont absank und sich mit betäubender Geschwindigkeit im Kreise dreht. Dabei kam ein entsetzliches Tosen aus ihr herauf, halb schreiend, halb brüllend, wie es selbst der gewaltige Niagarafall in seiner Todesangst nicht schauriger zum Himmel sendet. Der Berg erbebte in seinen Tiefen, die Felsen erzitterten." (1)

Julia Tomasi Müntz scheint über die richtigen Rezepturen für alchemistische Erfolge zu verfügen. Uns wird nicht schwindelig, wir fürchten uns nicht - wir genießen. 

 

(1) Im Wirbel des Malstroms. In: Edgar Allan Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue, Leipzig, Reclam 1980, S. 78f.

 

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